17

Drei Wochen später stieg er aus einem Langstrecken-Airbus auf dem Blefuscu International Aerodrome in einen heißen, doch von einer sanften Brise gestreichelten Frühlingstag der südlichen Hemisphäre hinaus. Ein buntes Gemisch von Düften füllte seine Nase - Hibiskus, Oleander, Jakaranda, Schweiß, Exkremente, Motoröl. Jetzt erst wurde ihm die Riesentorheit dieses Unternehmens klar, traf ihn härter als der Schlag des pazifistischen Liebhabers seiner Frau, der Schwinger, der Pazifistenhaken, der ihn auf den Fußboden seines Schlafzimmers niedergestreckt hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ein ehrbarer und nun steinreicher Mann von fünfundfünfzig Jahren, um die halbe Welt hinter einer Frau herzujagen, die ihn buchstäblich auf den Brettern liegen gelassen hatte? Und schlimmer noch, warum ärgerte er sich so sehr darüber, daß die hiesigen Revolutionäre, Filbistanis, FRM, Fremen - warum konnten sie sich nicht endlich entscheiden, wie sie endgültig heißen wollten? - die Identität der von ihm ersonnenen Geschöpfe angenommen hatten, Feuerwehrmännern oder Arbeitern in Atomkraftwerken gleich, die wegen der Gefährdung an ihrem Arbeitsplatz in Schutzanzüge schlüpften? Die Kostüme der Marionettenkönige mochten zu einem Bestandteil dessen geworden sein, was in diesen Breiten derzeit vor sich ging, aber dafür war er nicht verantwortlich zu machen. »Du hast nichts mit diesen Ereignissen zu tun«, tadelte er sich selbst zum x-ten Mal, und ebenso oft erwiderte er sich: »Ach ja? Warum treibt sich dann dieser glatzköpfige Flaggenschwenker Babur mit meinem Mädchen herum und trägt dabei eine Latexmaske mit meinem Gesicht?«

Die Maske der Zameen von Rijk war nach Neela Mahendras Vorbild geschaffen worden, das war deutlich zu sehen, aber im Fall Akasz Kronos hatte Solanka das Gefühl, daß eher das Gegenteil zutraf: Mit der Zeit war er seiner Kreation immer ähnlicher geworden. Das lange Silberhaar, der irre, vom Verlust gezeichnete Blick. (Den Mund hatte er schon immer gehabt.) Ein seltsames Maskenspiel wurde auf dieser entlegenen Inselbühne getrieben, und Professor Malik Solanka hatte sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß alle Aktionen ihn ganz persönlich betrafen, daß das große oder vielleicht auch triviale Drama seines möglicherweise bedeutenden, höchstwahrscheinlich aber recht erbärmlichen Lebens - immerhin aber seines Lebens! - hier im Südpazifik am Schauplatz seines letzten Aktes angelangt war. Das ergab keinen rechten Sinn, aber seit den ein wenig tragischen, hauptsächlich aber possenhaften Ereignissen in der Nacht der Furien hatte er sich in einem recht wirren Geisteszustand gefunden, nachdem er mit einem abgebrochenen Backenzahn, der ihn sehr schmerzte, sowie einem gebrochenen Herzen und einem verletzten Leben, das ihm noch größeren Kummer bereitete als der pochende Zahn, wieder zu Bewußtsein gekommen war. Auf dem Behandlungsstuhl beim Zahnarzt hatte er versucht, die Ohren vor dem Band früher Lennon-McCartney-Melodien und dem leichten Geplauder des neuseeländischen Steinbrechers zu verschließen, der sich tief in seinen Kiefer bohrte - irgendwie fiel ihm dabei ein, daß die Beatles sich zu Beginn ihrer Karriere die Quarrymen, Steinbrecher, genannt hatten. Er konzentrierte sich auf Neela: was sie wohl dachte, wie er sie zurückgewinnen konnte. Sie hatte gezeigt, daß sie in Herzensangelegenheiten ganz ähnlich war wie der Mann, der zu sein die Frauen ihm immer vorgeworfen hatten. Sie war da, bis sie nicht mehr da war. Wenn sie liebte, liebte sie zu hundert Prozent, rückhaltlos; aber ganz offensichtlich war sie auch eine Axtmörderin, ohne weiteres dazu fähig, einer unvermittelt beendeten Liebe den Kopf abzuschlagen. Mit seiner Vergangenheit konfrontiert - einer Vergangenheit, die seiner Meinung nach überhaupt nichts mit seiner Liebe zu ihr zu tun hatte -, hatte sie ihre Sollbruchstelle erreicht; sie hatte ihre Kleider angezogen, war gegangen und hatte fast sofort einen Vierundzwanzigstundenflug quer über den Globus angetreten, ohne sich telefonisch nach seinem Kinn zu erkundigen, ohne ein liebevolles Abschiedswort oder vielleicht das behutsame Versprechen, später, wenn die Geschichte es erlaubte und ihr ein bißchen mehr Zeit ließ, versuchen zu wollen, alles wieder zu kitten. Aber sie war auch eine Frau, die wußte, was es hieß, verfolgt zu werden. War möglicherweise sogar ein bißchen süchtig danach. Auf jeden Fall - redete sich Solanka ein, während der ratternde Preßlufthammer des Neuseeländers an seinem Kinn herumwerkelte - war er es sich schuldig, eine so bemerkenswerte Frau, wie er sie gefunden hatte, nicht durch einen eigenen Fehler zu verlieren.

Gen Osten fliegen hieß der Zukunft entgegeneilen - die jetgetriebenen Stunden rasten viel zu schnell vorbei, der folgende Tag kam auf Flügeln näher -, aber es war ein Gefühl wie eine Rückkehr in die Vergangenheit. Er reiste vorwärts ins Unbekannte und zu Neela, doch während der ersten Hälfte des Fluges drängte sich die Vergangenheit in sein Herz. Als er Bombay unter sich sah, setzte er eine Schlafmaske auf und schloß die Augen. Die Maschine legte in seiner Geburtsstadt eine Zwischenlandung von einer vollen Stunde ein, er aber lehnte eine Transitkarte ab und blieb an Bord. Selbst auf seinem Platz war er jedoch vor seinen Gefühlen nicht sicher. Die Schlafmaske nützte überhaupt nichts. Eine Putzkolonne kam an Bord, schwatzend und klappernd, eine Gruppe von Frauen in schäbigen roten und rosa Farben, und mit ihnen kam Indien wie eine Krankheit: ihre aufrechte Haltung, der laute, nasale Lärm ihrer Gespräche, ihre Staubwedel, ihre harten Arbeiteraugen, der vertraute Duft halb vergessener Salben und Gewürze - Kokosnußöl, Griechisch Heu, Kolonji -, der auf ihrer Haut haftete. Ihm wurde schwindlig, er rang nach Luft, als leide er an der Flugkrankheit, obwohl es ihm auf einem Flug niemals schlecht wurde, die Maschine schließlich auf dem Boden stand, um aufgetankt zu werden, und alle Motoren abgeschaltet waren. Erst als sie nach dem Takeoff nach Osten über das Hochland von Dekhan flogen, konnte er wieder richtig atmen. Als wieder Wasser unter ihnen war, begann er sich ein wenig zu entspannen. Neela hatte mit ihm nach Indien gehen wollen, freute sich bei der Vorstellung, das Land ihrer Vorfahren mit dem Mann ihrer Wahl zu entdecken. Der Mann ihrer Wahl, das war er gewesen, daran mußte er sich klammern. »Ich hoffe«, hatte sie sehr ernst zu ihm gesagt, »daß du der letzte Mann bist, mit dem ich jemals schlafen werde.« Die Macht derartiger Versprechungen ist groß, und im Banne ihres Zaubers hatte er sich dem Glauben hingegeben, daß die Vergangenheit ihrer Macht beraubt werden könnte - beraubt worden war -, so daß in der Zukunft alles erreicht werden konnte. Nun aber war Neela verschwunden wie die Assistentin eines Zauberkünstlers, und seine Kraft war mit ihr vergangen. Ohne sie, davon war er überzeugt, würde er nie wieder die Straßen Indiens betreten.

Das Aerodrom war, wie schon sein Name andeutete, etwas, das Touristen, die sich von gar nichts abschrecken ließen, als antik oder malerisch bezeichnen würden. In Wirklichkeit war es ein Schweinestall, heruntergekommen, stinkend, mit feuchtem Gemäuer und fünf Zentimeter großen Kakerlaken, die unter den Schuhen wie Nußschalen krachten. Es hätte vor Jahren schon abgerissen werden sollen und war tatsächlich zum Abriß freigegeben worden - schließlich lag es auf der falschen Insel, und die Shuttle-Hubschrauber, die ihn mit der Hauptstadt Mildendo verbanden, sahen ziemlich ramponiert aus -, aber der neue Flughafen, GGI (Golbasto Gue Intercontinental), hatte den alten überholt, indem er einen Monat nach seiner Fertigstellung einfach einstürzte, was darauf zurückzuführen war, daß die hiesigen Indo-Lilly-Baufirmen hinsichtlich des beim Betonmischen lebenswichtigen korrekten Verhältnisses von Wasser und Zement eine neue, äußerst phantasievolle und zugleich finanziell gewinnträchtige Auffassung vertreten hatten.

Dieser kreative Geist stellte sich als Teil des Lebens in Lilliput-Blefuscu heraus. Professor Solanka betrat die Zollhalle des Aerodroms von Blefuscu, und sofort begannen sich aus Gründen, die er, obwohl vom Flug erschöpft und denkunfähig vor Kopfschmerzen, vorausgesehen hatte und sogleich verstand, alle Köpfe nach ihm zu drehen. »Nicht möglich. Nicht möglich. Wir haben keine Anmeldung. Sie sind wer? Ihr Name bitte?« sagte er argwöhnisch und streckte die Hand nach Solankas Paß aus. »Habe ich mir gedacht«, sagte der Beamte schließlich. »Sie sind es nicht.« Das war, gelinde gesagt, gnomisch, aber Solanka neigte höflich zustimmend den Kopf. »Es gehört sich nicht«, setzte der Beamte seltsamerweise hinzu, »die Bevölkerung eines Landes, in dem Sie nur zu Gast und von unserer berühmten Toleranz und unserem guten Willen abhängig sind, derart irrezuführen.« Er machte eine befehlende Geste in Richtung Solanka, der gehorsam seine Koffer öffnete. Der Zollbeamte musterte rachsüchtig den Inhalt: die sauber gepackten vierzehn Paar Socken, vierzehn Unterhosen, vierzehn Taschentücher, drei Paar Schuhe, sieben Hosen, sieben Hemden, sieben Buschhemden, sieben Polohemden, drei Krawatten, drei sauber gefaltete, mit Seidenpapier geschützte Leinenanzüge und für alle Fälle sogar einen Regenmantel. Nach einer nachdenklichen Pause zeigte er ein breites Lächeln, das zwei Reihen perfekter Zähne bloßlegte und Solanka umgehend mit Neid erfüllte. »Hoher Zoll fällig«, erklärte der Beamte strahlend. »So viele zollpflichtige Gegenstände.« Solanka runzelte die Stirn. »Das sind nur meine Kleider. Sie werden die Leute doch nicht dafür bezahlen lassen, daß sie mitbringen, was sie benötigen, um ihre Nacktheit zu bedecken.« Der Zollbeamte hörte auf zu lächeln und legte die Stirn in noch drohendere Falten als Solanka. »Obszöne Ausdrücke sind zu vermeiden, bitte, Mr. Trickster«, belehrte er ihn. »Hier ist viel, das keine Kleidung ist. Hier ist eine Videokamera, außerdem Armbanduhren, Kameras, Schmuck. Hoher Zoll fällig. Wenn Sie Protest einlegen wollen, ist das natürlich Ihr demokratisches Recht. Sie sind hier in Free Indian Lilliput-Blefuscu: Filbistan! Falls Protest gewünscht wird, dürfen Sie natürlich gern im Vernehmungsraum Platz nehmen und alle Punkte mit meinem Boss besprechen. Er wird schon sehr bald Zeit für Sie haben. Vierundzwanzig, sechsunddreißig Stunden.« Solanka verstand. »Wieviel?« fragte er und bezahlte. In einheimischen Sprugs klang die Summe enorm, umgerechnet waren es jedoch achtzehn Dollar und fünfzehn Cent. Mit einer ausholenden Geste malte der Zollbeamte mit Kreide ein großes X auf Solankas Koffer. »Sie kommen in einem großen, historischen Moment«, erkärte er Solanka wichtigen Tones. »Die indische Bevölkerung von Lilliput-Blefuscu ist endlich für ihre Rechte eingetreten. Unsere Kultur ist uralt und überlegen und wird daher obsiegen. Das ist das Recht des Stärkeren, nicht wahr? Seit einhundert Jahren haben diese nichtsnutzigen Elbee-Kannibalen Grog getrunken - Kava, Glimigrim, Flunex, Jack Daniels und Coke, alle möglichen gottlosen Getränke - und uns gezwungen, ihre Scheiße zu fressen. Jetzt können sie statt dessen die unsere fressen. Bitte sehr: Genießen Sie Ihren Aufenthalt.«

In dem Shuttle-Hubschrauber, der ihn nach Mildendo auf der Insel Lilliput brachte, starrten die anderen Passagiere Professor Solanka genauso ungläubig an wie zuvor der Zollbeamte. Er beschloß, ihr Verhalten zu ignorieren, und wandte seine Aufmerksamkeit der Landschaft unter sich zu. Als sie über die Zuckerplantagen von Blefuscu flogen, fielen ihm die hohen Haufen schwarzen Eruptivgesteins in der Mitte eines jeden Feldes auf. Früher hatten sich indische Kontraktarbeiter, nur an ihren Nummern kenntlich, kaputtgearbeitet, um dieses Land zu roden, und unter der eiskalten Aufsicht australischer Coolumbers diese Steinhaufen aufgetürmt, während sie in ihren Herzen den tiefen Groll bewahrten, der aus ihrem Schweiß und der Auslöschung ihrer Namen entstanden war. Die Steine waren Zeichen akkumulierten vulkanischen Zorns, uralte Prophezeiungen des Ausbruchs der Wut aller Indo-Lillys, dessen Auswirkungen überall zu sehen waren. Der klapprige LB-Air-Hubschrauber landete zu Solankas unendlicher Erleichterung auf dem noch existierenden Flugfeld des ruinierten Gulbasto Gue Intercontinental Airport, und das erste, was er sah, war ein gigantisches Bild von Commander Akasz, das heißt, des FRM-Führers Babur in seiner Akasz-Kronos-Maske mit Umhang. Nachdenklich dieses Bildnis betrachtend, fragte sich Solanka mit klopfendem Herzen, ob er sich, als er diese transglobale Reise antrat, nicht doch wie ein liebestoller Idiot und politischer Naivling verhalten hatte. Denn das allgegenwärtige Bild in Lilliput-Blefuscu - einem Land dicht vor dem Bürgerkrieg, in dem der Präsident persönlich noch immer als Geisel gehalten wurde, in dem ein höchst gespannter Belagerungszustand herrschte und in dem sich jeden Moment unvorhersehbare Entwicklungen ereignen konnten - hatte, wie er sich hätte denken können, sehr große Ähnlichkeit mit ihm selbst. Das Gesicht, das von der Spitze des fünfzehn Meter hohen Standbilds auf ihn herabsah - dieses von langem Silberhaar gerahmte Gesicht mit den irr blickenden Augen und dem rotbraunen Amorbogen des Mundes -, war sein eigenes.

 

Er wurde erwartet. Die Nachricht von dem Doppelgänger des Commanders war dem Shuttle-Hubschrauber vorausgeeilt. Hier im Theater der Masken wurde das Original, der Mann ohne Maske, als Imitator der Maske empfunden: Das Geschöpf war real, während der Schöpfer eine Fälschung war! Es war, als wäre er beim Tod Gottes anwesend und als wäre der Gott, der gestorben war, er selbst. Vor der Tür des Shuttle erwarteten ihn maskierte Männer und Frauen mit Schnellfeuerwaffen. Er begleitete sie widerstandslos.

Er wurde in einen Transitraum gebracht, wo es keinen Stuhl, sondern nur einen ramponierten Holztisch gab, aufmerksam beobachtet von den starr blickenden Augen einer Eidechse, während durstige Fliegen der Tränenflüssigkeit in seinen Augenwinkeln bedrohlich nahe kamen. Eine Frau, deren Gesicht hinter einer Maske mit dem Gesicht der Frau, die er liebte, versteckt war, nahm ihm Paß, Uhr und Flugticket ab. Betäubt von der lärmenden Marschmusik, die mit voller Lautstärke über ein primitives Lautsprechersystem in den ganzen Flughafen übertragen wurde, entging ihm nicht der enthusiastische, Angst einflößende Ton in den Stimmen seiner Wachen - denn er war von schwerbewaffneten Guerilleros umgeben -, und in den nervösen Blicken der unmaskierten Zivilisten im Flughafengebäude und den zerfahrenen Bewegungen der maskierten Kombattanten erkannte er ebenfalls Anzeichen für die extreme Instabilität der Lage. Das alles führte Solanka lebhaft vor Augen, daß er sich weit aus seinem vertrauten Umfeld hinausgewagt und alle Zeichen und Codes zurückgelassen hatte, die seinem Leben Sinn und Form verliehen hatten. Hier existierte Professor Malik Solanka nicht als er selbst, als Mann mit einer Vergangenheit und Zukunft, umgeben von Menschen, denen sein Schicksal nicht gleichgültig war. Hier war er lediglich ein lästiger Niemand mit einem Gesicht, das alle kannten, und wenn er diese verblüffende Physiognomie nicht sehr schnell in einen Vorteil zu verwandeln verstand, würde sich seine Lage verschlechtern und im günstigsten Fall zu seiner frühen Deportation führen. Über die allerschlimmsten Konsequenzen nachzudenken weigerte er sich. Die Vorstellung, abgeschoben zu werden, ohne in Neelas Nähe gekommen zu sein, war ärgerlich genug. Wieder einmal bin ich nackt, dachte Solanka. Nackt und dumm. Weil ich direkt in den drohenden Knockoutschlag hineingelaufen bin.

Nach über einer Stunde hielt ein australischer Holden-Kombi vor dem Schuppen, in dem er festgehalten worden war, und Solanka wurde eher unsanft, doch ohne überflüssige Brutalität aufgefordert, hinten einzusteigen. Rechts und links neben ihm nahmen Guerilleros im Kampfanzug Platz; zwei weitere stiegen in den Kofferraum, wo sie sich mit dem Rücken zu ihm hinsetzten und die Läufe ihrer Waffen durchs Fenster der Heckklappe schoben. Auf der Fahrt durch Mildendo hatte Malik Solanka ein seltsames Dejá-vu-Gefühl, und es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, daß ihn die Situation an Indien erinnerte. Genauer gesagt, an Chandni Chowk, das von Unruhen geplagte Herz Old Delhis, wo die Händler auf die gleiche Art eng beieinanderhockten, wo die Ladenfassaden genauso bunt und die Innenräume so grell beleuchtet waren, wo auf der Straße die Masse der Fußgänger, Radler, Drängier und Schreihälse noch dichter gedrängt wogte, wo Tiere und Menschen um Raum kämpften und wo zahllose Autos mit ihren Hupen die alltägliche, immergleiche Symphonie der Straße aufführten. Eine so dichte Menschenmenge hatte Solanka nicht erwartet. Leichter vorauszusagen und dennoch nervtötend war das spürbare Mißtrauen zwischen den beiden Volksgemeinschaften, den murrenden Gruppen von Elbee- und Indo-Lilly-Männern, die einander finster musterten, das Gefühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen und auf die Explosion zu warten. Das waren das Paradoxon und der Fluch aller kommunalen Probleme: Wenn sie auftraten, waren es Freunde und Nachbarn, die kamen, um dich zu töten, dieselben Menschen, die dir vor ein paar Tagen noch geholfen hatten, deinen Motorroller zu starten, und die sich über die Süßigkeiten freuten, die du verteilt hattest, als deine Tochter sich mit einem netten, gebildeten Mann verlobte. Der Inhaber des Schuhgeschäftes, neben dessen Haus du zehn Jahre lang oder mehr deinen Tabakwarenladen betrieben hattest: Das war der Mann, der den ersten Schlag führen würde, der die Männer mit den Fackeln zu deiner Tür bringen und die Luft mit süßem Virginia-Rauch füllen würde. Nirgends waren Touristen zu sehen. (Das Flugzeug nach Blefuscu war zu über zwei Dritteln leer gewesen.) Von einer überraschend großen Anzahl weiblicher FRM-Kader abgesehen, waren nur wenige Frauen auf der Straße, und überhaupt keine Kinder. Viele Geschäfte waren geschlossen und verbarrikadiert; andere blieben halbwegs geöffnet, und die Leute - Männer - gingen ihren täglichen Pflichten nach. Waffen sah man dagegen überall, und sporadisch waren auch Schüsse zu hören. Um wenigstens ein bißchen Ordnung zu wahren, kollaborierte die Polizei mit den FRM-Leuten; die Armee machte sich lächerlich und blieb in den Kasernen, obwohl die Generäle an den komplizierten Verhandlungen teilnahmen, die jeden Tag stundenlang hinter den Kulissen stattfanden. FRM-Unterhändler trafen sich mit den Elbee-Chefs sowie mit religiösen und Wirtschafts-Führern. Commander Akasz versuchte wenigstens den Eindruck eines Mannes zu machen, der nach einer friedlichen Lösung der Krise sucht. Doch unter der Oberfläche gärte der Bürgerkrieg. Skyresh Bolgolam mochte besiegt und gefangen sein, aber die meisten der Elbee-Jugendlichen, die den fehlgeschlagenen Coup der Bolgolamiten unterstützt hatten, leckten ihre Wunden und planten zweifellos ihre nächsten Manöver. Mittlerweile hatte die internationale Gemeinschaft nichts Eiligeres zu tun, als Lilliput-Blefuscu zum kleinsten Paria-Staat der Welt zu erklären, die Handelsabkommen zu stoppen und Hilfsprogramme einzufrieren. Unter diesen Umständen sah Solanka seine Chance.

Motorradfahrer umringten den Wagen und begleiteten ihn zu der schwer bewachten Umfassungsmauer des Parlamentskomplexes. Das Tor öffnete sich, der Kombi fuhr hindurch und rollte zum Dienstboteneingang auf der Rückseite des zentralen Gebäudes. Der Hintereingang, dachte Solanka mit einem stillen, ironischen Lächeln, ist das wahre Tor zur Macht. Viele Besucher, Funktionäre oder Bittsteller, konnten die großen Paläste der Macht durch die Vordertür betreten. Aber in einen Lastenaufzug zu steigen, beobachtet von weißbemützten Küchenchefs und -souschefs, umringt von schweigenden, maskierten Männern und Frauen, gemächlich in einer kahlen Kabine emporgetragen zu werden: das war wirklich etwas Besonderes. Auf einen unauffälligen bürokratischen Korridor hinaustreten und durch eine Reihe zunehmend unprätentiöser Räume geführt werden, das hieß, den wahren Weg zum Mittelpunkt der Macht beschreiten. Nicht schlecht für einen Puppenmacher, sagte er sich. Du bist drin. Sehen wir mal, ob du mit dem wieder rauskommst, was du wolltest. Besser gesagt, sehen wir mal, ob du es überhaupt schaffst rauszukommen.

Am Ende der Folge ineinander übergehender Hinterzimmer lag ein Raum mit einer einzigen Tür. Drinnen befand sich das inzwischen vertraute, spartanische Mobiliar: ein Schreibtisch, zwei Segeltuchstühle, eine Deckenlampe, ein Aktenschrank, ein Telefon. Man ließ ihn allein, und er wartete. Er nahm den Telefonhörer ab; es gab einen Wählton, und ein Schildchen auf dem Apparat wies ihn an, die 9 für ein Amt zu wählen. Vorsichtshalber hatte er sich mehrere Nummern herausgesucht und auswendig gelernt: die Nummern der Lokalzeitung, der amerikanischen, britischen und indischen Botschaft, einer Anwaltskanzlei. Er versuchte diese zu wählen, hörte aber jedesmal die Aufzeichnung einer weiblichen Stimme, die auf englisch, Hindi und lilliputanisch sagte: »Diese Nummer kann von diesem Apparat nicht angewählt werden.« Er versuchte, die Notrufnummern zu erreichen. Vergeblich. »Diese Nummer kann nicht angewählt werden.« Was wir hier haben, sagte er sich, ist gar kein Telefon, sondern nur die äußere Erscheinung oder auch Attrappe eines Telefons. Genau wie dieses Zimmer nur das Kostüm eines Büros trägt, in Wirklichkeit aber eine Gefängniszelle ist. Kein Türknauf an der Innenseite der Tür. Das einzige Fenster: klein und vergittert. Er trat an den Aktenschrank und zog eine Schublade heraus. Leer. Jawohl, dies war eine Bühnenkulisse, und er spielte in einem Theaterstück mit, aber niemand hatte ihm das Skript gegeben.

Vier Stunden später kam Commander Akasz hereingerauscht. Bis dahin war Solankas restliche Zuversicht fast vollständig abhanden gekommen. Akasz wurde von zwei jungen Fremen begleitet, die zu unwichtig waren, um ein Kostüm zu tragen, und außerdem gefolgt von einem Steadicam-Kameramann, einem Toningenieur mit Mikrofonstange und - Solankas Herz begann vor Aufregung zu rasen - einer Frau in Tarnanzug und Zameen-Maske, die das Gesicht hinter einer Imitation ihrer selbst versteckte.

»Diesen Körper«, begrüßte Solanka sie, um Nonchalance bemüht, »den würde ich überall erkennen.« Das kam nicht besonders gut an. »Was willst du hier?« platzte Neela heraus; dann nahm sie sich zusammen. »Entschuldigen Sie, Commander. Es tut mir leid.« Babur, in seinem Akasz Kronos-Outfit, war nicht mehr der niedergeschlagene, entmutigte junge Mann, den Solanka vom Washington Square kannte. Er sprach vielmehr mit einem barschen Ton, der keinerlei Widerspruch duldete. Die Maske ist es, die spielt, erinnerte sich Solanka. Commander Akasz, dieser Schrank von einem Mann, war zu einem großen Hecht in diesem sehr kleinen Karpfenteich geworden und verhielt sich auch so. Aber nicht groß genug, wie Solanka feststellte, um gegen den Neela-Effekt immun zu sein. Babur ging mit langen, ausholenden Schritten, nach jeweils ungefähr zwölf Schritten landete sein Fuß jedoch unweigerlich auf dem Saum seines wirbelnden Umhangs, so daß sein Hals gefährlich heftig nach hinten gezogen wurde. Außerdem gelang es ihm, innerhalb einer Minute, nachdem er Solankas Zelle betreten hatte, mit dem Tisch und beiden Stühlen zu kollidieren. Und das, obwohl ihr Gesicht hinter einer Maske verborgen war! Sie schaffte es immer wieder, Solankas Erwartungen zu übertreffen. Er dagegen hatte die ihren enttäuscht. Nun mußte er Zusehen, wie er sie überraschen konnte.

Babur hatte sich bereits den Pluralis majestatis zugelegt. »Wir kennen Sie natürlich«, sagte er ohne weitere Vorrede. »Wer kennt im Augenblick nicht den Schöpfer der Marionettenkönige? Zweifellos hatten Sie gute Gründe dafür, die lange Reise hierher zu machen«, sagte er, den Körper halb Neela Mahendra zugewandt. Also nicht dumm, dachte Solanka. Sinnlos, zu leugnen, was er bereits weiß. »Unser Problem ist jetzt nur, was sollen wir mit Ihnen anfangen? Schwester Zameen? Irgendein Vorschlag?« Neela zuckte die Achseln. »Schicken Sie ihn nach Hause«, antwortete sie in einem stumpfen, desinteressierten Ton, der Solanka erschütterte. »Ich habe keine Verwendung für ihn.« Babur lachte. »Die Schwester sagt, daß Sie nutzlos sind, Professor Sahib. Sind Sie das wirklich? Wunderbar! Sollen wir Sie in den Knast stecken?«

Solanka stürzte sich in seinen vorbereiteten Vortrag. »Mein Vorschlag«, sagte er, »den zu machen ich die lange Reise hierher angetreten habe, lautet folgendermaßen: Gestatten Sie mir, als Ihr Vermittler zu fungieren. Ihre Verbindung mit meinem Projekt erfordert keinen Kommentar von mir. Wir können Ihnen ein Link zu einem globalen Massenpublikum hersteilen, um Herz und Verstand der Menschen zu erobern. Das ist unbedingt notwendig. Die Tourismusbranche ist ebenso tot wie Ihr legendärer Hurgo-Vogel. Wenn Sie Ihre Exportmärkte und die Unterstützung der großen regionalen Mächte verlieren, wird dieses Land binnen weniger Wochen, mit Sicherheit aber binnen weniger Monate bankrott sein. Sie müssen die Menschen überzeugen, daß Ihre Sache gerecht ist, daß Sie für demokratische Prinzipien kämpfen und nicht gegen sie. Für die nicht anerkannte Golbasto-Verfassung, meine ich. Sie müssen dieser Maske ein menschliches Gesicht verleihen. Lassen Sie Neela und mich mit meinen New Yorker Leuten ehrenhalber daran arbeiten. Betrachten Sie es als freiwillige Arbeit für eine Freiheitsbewegung.« So weit würde ich für die Liebe gehen, lauteten seine unausgesprochenen Gedanken an Neela. Ihre Sache war die seine. Wenn sie ihm vergab, würde er als ihr Diener all ihre Wünsche erfüllen.

Commander Akasz winkte ab. »Die Lage hat sich verändert«, behauptete er. »Andere Parteien - allesamt faule Eier! - haben sich unversöhnlich gezeigt. Infolgedessen haben wir unseren Standpunkt auch verhärtet.« Solanka konnte ihm nicht folgen. »Wir haben totale Autorität der Exekutive verlangt«, sagte er. »Schluß mit den Höflichkeiten. Was Filbistan jetzt braucht, ist ein starker Mann, der die Führung übernimmt. Ist das nicht so, Schwester?« Neela schwieg. »Schwester?« insistierte Babur, wandte sich zu ihr um und hob die Stimme; und sie senkte den Kopf, um fast unhörbar zu antworten: »Ja.« Babur nickte. »Eine Phase der Disziplin«, sagte er. »Wenn wir sagen, der Mond besteht aus Käse, woraus besteht er dann, Schwester?« »Aus Käse«, antwortete Neela im selben leisen Ton. »Und wenn wir dir sagen, die Welt ist eine Scheibe? Welche Form hat sie dann?« »Sie ist eine Scheibe, Commander.« »Und wenn wir morgen erklären, daß sich die Sonne um die Erde dreht?« »Dann ist es die Sonne, Commander, die sich dreht.« Babur nickte zufrieden. »Sehr gut! Das ist die Botschaft, die die Welt begreifen muß«, sagte er. »In Filbistan ist ein Führer erstanden, und dem muß jeder folgen oder die Konsequenzen tragen. Ach, übrigens, Professor, Sie haben an der University of Cambridge in England doch Ideengeschichte gelehrt, nicht wahr? Also seien Sie doch so gut und klären Sie uns über ein Rätsel auf: Was ist besser - geliebt oder gefürchtet zu werden?« Solanka antwortete nicht. »Kommen Sie, Professor«, drängte ihn Babur. »Strengen Sie sich an! Sie können’s doch!« Die FRM-Kader, die den Commander Akasz begleiteten, fingerten vielsagend an ihren Uzis herum. Mit ausdrucksloser Stimme zitierte Solanka Machiavelli. »Den Menschen fällt es weniger schwer, jemandem Schaden zuzufügen, der von ihnen geliebt wird, als jemandem, der von ihnen gefürchtet wird.« Dann begann er lebhafter zu sprechen und sah dabei Neela Mahendra an. »Weil die Liebe von einer Kette von Verpflichtungen zusammengehalten wird, die, da die Menschen ein trauriger Haufen sind, bei jeder Gelegenheit, da ihr Eigeninteresse auf dem Spiel steht, durchbrochen wird; aber die Furcht wird von einer Angst vor Bestrafung zusammengehalten, die uns niemals verlassen wird.« Baburs Miene hellte sich auf. »Kein faules Ei«, rief er und versetzte Solanka einen Schlag auf den Rücken. »Sie sind also doch nicht ganz nutzlos! So, so. Wir werden über Ihren Vorschlag nachdenken. Gut, gut. Bleiben Sie noch ein wenig. Bei uns residieren bereits der Präsident und Mr. Bolgolam. Auch Sie werden Zeuge dieser ersten strahlenden Stunden unseres geliebten Filbistans werden, in dem die Sonne nicht untergeht. Bitte, bestätigen Sie das, Schwester. Wie oft geht hier die Sonne unter?« Und Neela Mahendra, die stets wie eine Königin aufgetreten war, neigte den Kopf wie eine Sklavin und sagte: »Niemals, Commander. Sie geht niemals unter.«

 

Die Zelle - er sah sie längst nicht mehr als Zimmer - enthielt kein Bett und wies nicht einmal die rudimentärsten sanitären Einrichtungen auf. Demütigung war die Methode, nach der Commander Akasz bei anderen verfuhr, das hatte bereits Neelas Behandlung deutlich gemacht. Solanka merkte, daß auch er gedemütigt werden sollte. Die Zeit verging; er hatte keine Uhr, von der er sie ablesen konnte. Die Brise legte sich und erstarb. Die Nacht, die nicht ins ideologische Konzept passende, nicht existierende Nacht, wurde feucht und stickig und dehnte sich endlos. Man hatte ihm eine Schale mit einem unidentifizierbaren Brei zu essen und einen Krug mit verdächtig aussehendem Wasser gebracht. Er versuchte, beidem zu widerstehen, aber Hunger und Durst waren Tyrannen, und schließlich aß und trank er doch. Anschließend kämpfte er gegen die Natur - bis zur unvermeidlichen Niederlage. Als er es nicht mehr zurückhalten konnte, pißte und schiß er verzweifelt in eine Ecke, zog sein Hemd aus und säuberte sich, so gut es eben ging. Es war schwer, nicht in den Solipsismus zu fallen, schwer, diese Degradierungen nicht als Strafe für ein unbeholfenes, schmerzhaftes Leben zu sehen. Lilliput-Blefuscu hatte sich nach seinem Vorbild neu erfunden. Seine Straßen waren seine Biographie, patrouilliert durch Produkte seiner Einbildung und veränderten Versionen von Menschen, die er gekannt hatte: Dubdub und Perry Pincus waren in ihrer Sci-Fi-Version hier, außerdem Masken- und Kostüm-Inkarnationen von Sara Lear und Eleanor Masters, Jack Rhinehart, Sky Schuyler und Morgen Franz. Sogar Space-Age-Wislawas und -Schlinks streiften durch die Straßen von Mildendo sowie auch Mila, Neela und er selbst. Die Masken seines Lebens umkreisten ihn streng, richteten über ihn. Er schloß die Augen, aber die Masken waren immer noch da, wirbelnd. Er senkte den Kopf vor ihrem Richterspruch. Er hatte sich gewünscht, ein guter Mensch zu sein, das Leben eines guten Menschen zu führen, aber in Wirklichkeit hatte er es einfach nicht geschafft. Wie Eleanor sagte: er hatte jene verraten, deren einziges Verbrechen es war, ihn geliebt zu haben. Als er versucht hatte, sich von seinem dunkleren Ich zu lösen, dem Ich seiner gefährlichen Wut, weil er hoffte, seine Fehler durch einen Prozeß der Entsagung, des Aufgebens zu überwinden, war er nur in einen neuen, schlimmeren Fehler verfallen. Indem er sein Heil in der Schöpfung suchte und eine imaginäre Welt kreierte, hatte er zusehen müssen, wie deren Bewohner in die Welt hinausgingen und zu Monstern wurden; und das größte Monster von ihnen allen trug sein eigenes, schuldbeladenes Gesicht. Jawohl, der geisteskranke Babur war ein Spiegelbild seiner selbst. Indem er versuchte, schweres Unrecht gutzumachen, ein Diener des Guten zu sein, war Commander Akasz aus den Fugen geraten und zu einer grotesken Figur geworden.

Ich habe es nicht besser verdient, sagte sich Malik Solanka. Soll das Schlimmste geschehen. Inmitten der kollektiven Wut dieser unglückseligen Inseln hatte er eine weit größere Wut entdeckt, die viel tiefer ging als sein eigener, erbärmlicher Zorn; er hatte eine persönliche Hölle entdeckt. So sei es. Neela würde natürlich niemals zu ihm zurückkehren. Er hatte es nicht verdient, glücklich zu sein. Als sie kam, um ihn zu sehen, hatte sie ihr schönes Gesicht verhüllt.

 

Es war noch dunkel, als Hilfe eintraf. Die Zellentür öffnete sich, und ein junger Indo-Lilly-Mann kam herein, unmaskiert, mit Gummihandschuhen und einer Rolle Plastikmüllsäcken sowie mit Eimer, Schaufel und Mop. Ohne mit der Wimper zu zucken und sehr taktvoll, ohne den Blick des Verursachers zu suchen, räumte er den Schmutz, den Solanka hinterlassen hatte, davon. Als er fertig war, kehrte er mit sauberer Kleidung - einer hellgrünen Kurta und einer weißen Pyjamahose - sowie einem sauberen Handtuch, zwei neuen Eimern, einer leer, einer voll Wasser, und einem Stück Seife zurück. »Bitte«, sagte er, und: »Tut mir leid«, dann ging er hinaus. Solanka wusch sich, kleidete sich um und fühlte sich wieder ein bißchen wie er selbst. Dann kam Neela, allein, unmaskiert, in einem senfgelben Kleid und mit einer blauen Iris im Haar.

Es lag ihr offensichtlich auf der Seele, daß Solanka Zeuge ihrer zaghaften Reaktionen auf Baburs Verhalten gewesen war. »Alles, was ich getan habe, alles, was ich noch tue, tue ich für die Story«, behauptete sie,. »Die Maske war eine Geste der Solidarität, eine Möglichkeit, das Vertrauen der Kämpfer zu gewinnen. Außerdem, weißt du, bin ich hier, um mir anzusehen, was sie tun, und nicht, um mich von ihnen ansehen zu lassen. Ich habe gemerkt, daß du dachtest, ich wollte mich dahinter vor dir verstecken. Das war nicht der Fall. Genauso wie mit Babur. Ich bin nicht hier, um zu diskutieren. Ich mache einen Film.« Sie klang defensiv, nervös. »Malik«, sagte sie dann plötzlich, »ich möchte nicht über uns reden, okay? Im Moment bin ich etwas ganz Großem auf der Spur. Darauf muß ich mich konzentrieren.«

Er nahm die Gelegenheit wahr, riß sich zusammen und spielte seine Karten aus. Alles oder nichts, Hollyood oder Untergang: Er würde nie wieder so eine Chance bekommen. Möglicherweise hatte er ohnehin keine große, aber wenigstens war sie zu ihm gekommen, ja, hatte sich sogar fein dafür gemacht, und das war ein gutes Zeichen. »Das hier ist weit mehr für dich geworden als ein Dokumentarprojekt«, begann er. »Das hier geht dir wirklich zu Herzen. Für dich steht eine Menge auf dem Spiel - deine entwurzelten Wurzeln zerren an dir. Dein paradoxer Wunsch, ein Teil dessen zu sein, was du verlassen hast. Und nein, im Grunde habe ich nicht geglaubt, du könntest die Maske tragen, um dich vor mir zu verstecken, jedenfalls dachte ich mir, daß das nicht der einzige Grund war. Ich dachte, daß du dich vor dir selbst versteckst, vor dem Entschluß, den du irgendwann gefaßt hast, die Grenze zu überschreiten und an dieser Sache teilzunehmen. Auf mich wirkst du nicht wie ein Beobachter. Dazu steckst du viel zu tief drin. Vielleicht hat es mit einem persönlichen Gefühl für Babur begonnen - und keine Angst, hier spricht nicht die Eifersucht, auf jeden Fall gebe ich mir die größte Mühe, das nicht zuzulassen -, aber ich denke mir, wie immer deine Gefühle für Commander Akasz gewesen sein mögen, inzwischen sind sie längst nicht mehr so eindeutig. Dein Problem ist, daß du eine Idealistin bist, die versucht, eine Extremistin zu sein. Du bist fest überzeugt, daß dein Volk, wenn ich einen so antiquierten Ausdruck verwenden darf, von der Geschichte vernachlässigt worden ist, daß es verdient, wofür Babur kämpft - Stimmrecht, das Recht auf Eigentum, die ganze Liste legitimer Menschenrechte. Du hast gedacht, hier werde für die Menschenwürde gekämpft, für eine gerechte Sache, und du warst tatsächlich stolz darauf, daß Babur deine passiven Rassengenossen gelehrt hat, ihre eigenen Schlachten zu schlagen. Infolgedessen warst du bereit, einen gewissen Grad von, nun gut, nennen wir es Illiberalismus zuzulassen. Der Krieg ist hart, und so weiter. Da geraten gewisse Feinheiten schon mal unter die Räder. Das alles hast du dir gesagt, und die ganze Zeit hat dir eine andere Stimme in deinem Kopf ganz leise flüsternd gesagt, was du nicht hören wolltest, daß du nämlich zur Hure der Geschichte wurdest. Du weißt doch, wie es geht. Sobald man sich verkauft hat, kann man kaum noch über den Preis verhandeln. Wieviel würdest du ertragen? Wieviel autoritären Scheiß im Namen der Gerechtigkeit? Wie weit kannst du gehen, ohne das Kind mit dem Bad auszuschütten? - Du bist also, wie du sagtest, etwas ganz Großem auf der Spur, und du hast recht, es verdient deine Aufmerksamkeit, aber das Folgende auch: daß du nämlich nur wegen der Wut so weit gegangen bist, die dich in meinem Schlafzimmer in einer anderen Stadt in einer anderen Dimension des Universums urplötzlich gepackt hat. Ich kann nicht genau artikulieren, was in jener Nacht geschehen ist, aber ich weiß, daß eine Art psychischer Feedback-Schleife zwischen dir, Mila und Eleanor entstanden ist, die Wut ging rundherum und rundherum, verdoppelte sich und verdoppelte sich abermals. Sie bewirkte, daß Morgen mich niederschlug, und sie warf dich quer über den Planeten in die Arme eines kleinen Napoleon, der dein Volk unterdrücken wird, wenn er gewinnt, sogar noch mehr als die Elbees, die, jedenfalls in deinen Augen, bisher die Bösewichter in diesem Drama gewesen sind. Oder er wird sie auf eine andere Art genauso grausam unterdrücken. Versteh mich bitte nicht falsch. - Ich weiß, daß Menschen, wenn sie zerbrechen, gewöhnlich Mißverständnisse als Waffe benutzen, daß sie dies ganz bewußt tun, und sich in etwas hineinstürzen, um die Perfidie des anderen zu beweisen - ich sage nicht, daß du meinetwegen hergekommen bist. Du wolltest ohnehin kommen, nicht wahr? Es war unsere große Abschiedsnacht, und wenn ich mich recht erinnere, lief sie ganz wunderbar, bis sich mein Schlafzimmer plötzlich in die Grand Central Station verwandelte. Also wärst du so oder so hierhergekommen, und das Gezerre hier wäre nicht spurlos an dir vorbeigegangen, ob es mich nun gab oder nicht. Aber ich glaube, was dich wirklich dazu getrieben hat, war enttäuschte Liebe. Du warst von mir enttäuscht, das heißt, von der Liebe, von der großen, grenzenlosen Liebe, die für mich zu empfinden du dir gerade eben erst zu gestatten begonnen hattest. Du hattest gerade eben begonnen, mir so weit zu vertrauen, dir selbst so weit zu vertrauen, um dich gehenzulassen, und dann verwandelt sich der Prinz plötzlich in eine fette, alte Kröte. Was da passiert war, ist, daß die Liebe, die du verschenkt hast, schlecht geworden, sauer geworden ist, und nun benutzt du diese Tatsache, diese Enttäuschung, diesen Zynismus, um dich in Baburs Sackgasse treiben zu lassen. Warum nicht, eh? Wenn Gutsein eine Phantasie und Liebe ein Illustriertentraum ist, warum nicht? Nette Jungens werden Zweiter, dem Sieger gehört die Beute, et cetera. Dein System kämpft gegen sich selbst, die verletzte Liebe wendet sich dem Idealismus zu und zwingt ihn zur Kapitulation. Und rate mal! Das bringt dich in eine unmögliche Situation, in der du mehr aufs Spiel setzt als nur dein Leben. Du riskierst deine Ehre und deine Selbstachtung. Jetzt ist er da, Neela, dein Galileo-Moment. Dreht sich die Erde? Sag mir nichts. Ich kenne die Antwort. Aber es ist die wichtigste Frage, die man dir jemals stellen wird, bis auf die eine, die ich dir jetzt stellen werde: Liebst du mich noch, Neela? Denn wenn du es nicht tust, bitte, geh, geh deinem Schicksal entgegen, und ich werde hier auf das meine warten, aber ich glaube nicht, daß du das fertigbringst. Denn ich liebe dich, wie du geliebt werden mußt. Du hast die Wahl: In der falschen Ecke sitzt die fette, alte Kröte, die weiß, wie man dir gibt, was du brauchst, und die so dringend braucht, was du wiederum ihr zu geben weißt. Kann Recht Unrecht sein? Ist das Falsche für dich das Richtige? Ich glaube, du bist heute abend hierhergekommen, um die Antwort darauf zu finden, um zu sehen, ob du deine Wut besiegen kannst, wie du mir geholfen hast, die meine zu besiegen, um zu sehen, ob du eine Möglichkeit findest, vom Rand des Abgrunds zurückzukehren. Bleibst du bei Babur, wird er dich mit Haß erfüllen. Aber du und ich: wir könnten’s schaffen. Ich weiß, es ist töricht, etwas Derartiges zu sagen, wo ich doch noch vor einer Stunde nach meiner eigenen Scheiße gestunken habe und noch immer kein Zimmer mit einem Türknauf auf der Innenseite aufweisen kann, aber so ist es nun mal, und um dir das zu sagen, habe ich die halbe Welt umrundet.«

»Wow«, sagte sie nach einer angemessen respektvollen Pause. »Und ich dachte, in diesem Team wäre ich das Großmaul.«

Sie angelte eine von der Hitze aufgeweichte Stange Toblerone aus ihrer Handtasche, über die sich Solanka gierig hermachte. »Er verliert das Vertrauen seiner Männer«, berichtete sie Solanka. »Der Junge, der dir heute abend geholfen hat? Es gibt noch viele wie er, vielleicht sogar die Hälfte von allen, und aus irgendeinem Grund flüstern sie mir was zu. Khuss-puss, khuss-puss. Es ist so traurig. Madam, wir sind anständige Menschen. Khuss-puss. Madam, Commander Sahib verhält sich so seltsam, nicht wahr? Bitte, Madam, sagen Sie niemandem was von dem, was ich denke. Ich bin nicht der einzige Idealist hier bei uns. Diese Kids hätten nicht gedacht, daß sie in den Krieg ziehen würden, um die Erde plattzuwalzen oder die Stunden der Dunkelheit abzuschaffen. Sie kämpfen für ihre Familien, und all dieses unausgegorene Zeug macht sie nervös. Deswegen kommen sie zu mir und beschweren sich, und das bringt mich in große Gefahr. Es spielt im Grunde keine Rolle, welchen Rat ich ihnen gebe - die Tatsache, daß ich ein zweiter Mittelpunkt, ein konkurrierendes Zentrum bin, ist schon gefährlich genug. Eine Ratte - ein Maulwurf - genügt schon, und da wir gerade von Kröten sprechen, jawohl, ich liebe dich, sehr sogar. Aber was ich jetzt da draußen sah, bevor ich mit dem Team hierherkam, das war eine Armee, die’s ziemlich satt hat, sich lächerlich zu machen. Nach meinen Informationen haben sie mit den Amerikanern und den Briten gesprochen. Es gehen Gerüchte um, daß die Marines und die SAS vielleicht schon in Mildendo sind; ja, ich komme mir schon seit Wochen ziemlich albern vor, weil ich dich einfach so im Stich gelassen habe. Draußen, außerhalb der Hoheitsgewässer, liegt ein britischer Flugzeugträger, und die Kontrolle über die militärischen Fliegerhorste von Blefuscu hat Babur ebenfalls verloren. In Wirklichkeit finde ich schon seit einer ganzen Weile, daß es Zeit wird, zu verschwinden, aber ich weiß nicht, wie Babur das auffassen wird. Halb möchte er mich im nationalen Fernsehen bumsen, und halb möchte er mich dafür verprügeln, daß ich dieses Gefühl in ihm wecke. Jetzt kennst du also den wirklichen Grund, warum ich die Maske getragen habe: Es liegt einfach nahe, den Kopf in eine Papiertüte zu stecken, und du hast die ganze weite Reise gemacht, um mich zu holen, und bist direkt in die Höhle des Löwen geraten. Ich glaube, du magst mich tatsächlich auch ein bißchen, eh? Ich suche nach einem Ausweg. Wenn ich die richtigen Fremen an den richtigen Stellen plaziere, könnte es, glaube ich, klappen, und ich habe Kontakte in der Armee, die uns wenigstens zu dem britischen Schiff oder vielleicht einem Militärflugzeug bringen können. Bis dahin werde ich dafür sorgen, daß man sich um dich kümmert. Wie weit Babur wirklich hinüber ist, weiß ich noch immer nicht. Vielleicht hält er dich für eine wertvolle Geisel, obwohl ich ihm immer wieder erkläre, daß sich bei dir die Mühe nicht lohnt, daß du einfach ein Zivilist bist, der in etwas reingeraten ist, von dem er nichts versteht, ein kleiner Fisch, den er wieder ins Wasser zurückwerfen sollte. Und wenn du mich jetzt nicht bald küßt, sehe ich mich gezwungen, dich mit bloßen Händen umzubringen. Okay, das ist gut. Und jetzt bleibst du hier. Ich werde wiederkommen.«

In Athen hielt man die Furien für Aphrodites Schwestern. Schönheit und rachsüchtiger Zorn entspringen, wie Homer wußte, derselben Quelle. Das war die eine Geschichte. Hesiod dagegen meinte, die Furien seien aus Erde und Luft geboren und zu ihren Sprößlingen gehörten Terror, Hader, Lügen, Rachsucht, Unmäßigkeit, Streit, Furcht und Kampf. In jenen Zeiten wurden Bluttaten gerächt, wurden jene verfolgt, die (vor allem) ihrer Mutter etwas antaten - Orest, der lange von ihnen verfolgt wurde, nachdem er die blutbefleckte Klytämnestra getötet hatte, konnte ein Lied davon singen. Mit leirion oder blauer Iris konnte man die Furien zuweilen beschwichtigen, aber Orest trug keine Blumen im Haar. Sogar der Hornbogen, den ihm die Pythia, das Orakel von Delphi, zum Schutz gegen ihre Attacken gab, war keine große Hilfe. Schlangenhaarig, hundsköpfig, fledermausgeflügelt, jagten ihn die Erinnyen sein Leben lang und gönnten ihm keine Ruhe.

Heute warfen die Göttinnen, weniger beachtet, aber gieriger, wilder, ihre Netze viel weiter aus. Je schwächer die Familienbande wurden, desto stärker mischten sich die Furien in jeden Aspekt des menschlichen Lebens ein. Von New York bis Lilliput-Blefuscu gab es vor dem Schlag ihrer Flügel kein Entrinnen.

 

Sie kam nicht wieder. Junge Männer und Frauen kümmerten sich um Solankas tägliche Bedürfnisse. Es waren einige der müden, eingesperrten Kämpfer, die ihren eigenen Anführer Babur ebenso sehr fürchteten wie den Feind draußen vor den Mauern und ihre dunkle Aphrodite um Rat gebeten hatten; doch als sich Solanka nach Neela erkundigte, machten sie stumme Ich-weiß-nicht-Gesten und gingen davon. Auch Commander Akasz ließ sich nicht mehr blicken. Solanka, vergessen, am Rande des Geschehens gestrandet, schlief, hielt laute Selbstgespräche, driftete immer weiter in die Irrealität hinein und schwankte zwischen Tagträumen und Panikattacken. Durch das kleine, vergitterte Fenster hörte er Kampfgeräusche, die immer häufiger wurden und immer näher kamen. Rauchsäulen stiegen hoch in die Luft. Solanka dachte an Braingirl. Ich hätte sein Haus in Brand gesteckt. Ich hätte seine Stadt niedergebrannt.

Gewalttaten werden von den meisten jener, die darin verwickelt sind, nicht erkannt. Erfahrungen bleiben bruchstückhaft; Ursache und Wirkung, warum und wie, werden auseinandergerissen. Nur die Abfolge existiert. Zuerst dies, dann das. Und später versuchen jene, die überleben, ihr Leben lang zu begreifen. Der Angriff kam an Solankas viertem Tag in Mildendo. Bei Morgengrauen wurde die Tür seiner Zelle geöffnet. Da stand derselbe wortkarge junge Mann - jetzt mit Schnellfeuerwaffen und mit zwei Messern im Gürtel -, der vor ein paar Tagen so klaglos bei ihm aufgeräumt hatte. »Bitte, kommen Sie schnell«, sagte er. Solanka folgte ihm, und dann war er wieder im Labyrinth, den trostlosen, ineinander übergehenden Räumen, wo maskierte Kämpfer den Weg bewachten und sich jeder Tür näherten, als sei sie mit einer Sprengladung versehen, um jede Ecke schlichen, als lauere unmittelbar dahinter ein Hinterhalt; und in der Ferne vernahm Solanka die unartikulierte Konversation der Schlacht, das Geplapper der automatischen Gewehre, das Grummeln der schweren Artillerie und, hoch über allem, das lederne Schlagen von Fledermausschwingen und das Kreischen der hundsköpfigen Drei. Dann war er im Lastenaufzug eingeschlossen, wurde durch die zerstörten Küchen geschoben und in einen nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichneten, fensterlosen Lieferwagen gestoßen; dann kam eine lange Zeit gar nichts. Höchstgeschwindigkeitsfahrt, beängstigende Stops, erhobene Stimmen, erneute Vorwärtsbewegung. Lärm. Woher kam dieses Kreischen? Wer starb, und wer tötete? Was ging hier vor? Da er so wenig wußte, kam er sich unbedeutend vor, sogar ein bißchen geisteskrank. In diesem schwankenden, rüttelnden Lieferwagen eingesperrt, begann Malik Solanka laut zu heulen. Aber dies war doch schließlich eine Rettungsfahrt. Irgend jemand -Neela? - hatte ihn für würdig erachtet. Der Krieg löscht das Individuum aus, er aber wurde aus dem Krieg gerettet. Die Autotür ging auf; blinzelnd spähte er ins blendende Tageslicht. Ein Offizier salutierte vor ihm - ein exotisch schnurrbärtiger Elbee in der überreich betreßten Uniform der Lilliputianer-Armee. »Professor. Freut mich, Sie wohlauf und in Sicherheit zu sehen, Sir.« Er erinnerte Solanka an Sergius, den steifrückigen Offizier in Shaws Helden. Sergius, der sich niemals entschuldigte. Dieser Bursche war eindeutig dazu abgestellt worden, Solanka zu begleiten, eine Aufgabe, die er energisch wahrnahm, indem er wie ein zu stramm aufgezogener Spielzeugsoldat vorausmarschierte. Er führte Solanka zu einem Gebäude mit dem Zeichen des Internationalen Roten Kreuzes. Später gab es etwas zu essen. Ein britisches Militärflugzeug wartete auf ihn, um ihn mit einer Gruppe anderer ausländischer Paßbesitzer nach London zurückzubringen. »Den Paß hat man mir abgenommen«, teilte Solanka Sergius mit. »Das spielt jetzt keine Rolle, Sir«, antwortete der Offizier. »Ich kann nicht ohne Neela abreisen«, wandte Solanka ein. »Darüber bin ich nicht informiert, Sir«, sagte Sergius. »Ich habe lediglich Befehl, Sie schnellstmöglich an Bord dieser Maschine zu bringen.«

Sämtliche Sitze in der britischen Maschine waren zum Heck ausgerichtet. Nachdem Solanka den ihm zugeteilten Platz eingenommen hatte, erkannte er in den Männern auf der anderen Seite des Mittelgangs Neelas Kameramann und Toningenieur. Als sie aufstanden und ihn umarmten, wußte er, daß sie schlechte Nachrichten brachten. »Unglaublich, mein Freund«, sagte der Toningenieur. »Sie hat also auch Sie gerettet. Erstaunliche Frau.« Wo ist sie. Von all dem hier ist nichts so wichtig, dachte er, dein Leben, meines. Wird sie bald hier sein. »Sie hat das Ganze geplant«, sagte der Kameramann. »Die Fremen organisiert, die Babur satt hatten, über Kurzwelle die Armee informiert, das freie Geleit arrangiert, und alles. Der Präsident ist draußen. Bolgolam auch. Dieses Schwein hat versucht, sich bei ihr zu bedanken, hat sie als Nationalheldin bezeichnet. Sie ist ihm einfach ins Wort gefallen. In ihren eigenen Augen war sie eine Verräterin und hat die einzige Sache verraten, an die sie glaubte. Sie verhalf den bösen Buben zum Sieg, und das hat sie umgebracht. Aber sie konnte sehen, was aus Babur geworden war.« Malik Solanka war sehr still und ruhig geworden. »Die Armee hatte die Scherze satt«, sagte der Toningenieur. »Sie haben alle Reservisten alarmiert und eine Menge alte, aber immer noch funktionierende schwere Artillerie abgestaubt. Kampfhubschrauber aus der Vietnam-Ära, vor Jahren aus zweiter Hand den Vereinigten Staaten abgekauft, bodengestützte Mörser, ein paar kleine Panzer. Gestern abend haben sie die Kontrolle über das Parlamentsgelände zurückerobert. Aber Babur machte sich noch immer keine Sorgen.« Der Kameramann zeigte auf einen silberfarbenen Koffer. »Wir haben alles«, sagte er. »Sie hat uns unglaublich viel Zugang verschafft. Einfach unglaublich. Er hatte niemals geglaubt, daß sie das schwere Zeug gegen das Parlamentsgebäude einsetzen würden, und ganz bestimmt nicht, solange er seine Geiseln hatte. Bei dem Gebäude hat er sich getäuscht. Ihre Entschlossenheit unterschätzt. Aber die Geiseln waren der Schlüssel, und Neela hat das Schloß geknackt. Wir sind alle vier zusammen freigekommen. Und dann gab es diese ganze zweite Variante, die sie nur für Sie organisiert hat.« Danach fiel kein Wort mehr. Das Schreckliche hing zwischen ihnen wie ein grelles Licht, das zu hell war, um hineinzusehen. Der Toningenieur begann zu weinen. Was ist geschehen, erkundigte sich Solanka schließlich. Wie konntet ihr sie verlassen. Warum ist sie nicht mit euch in die Sicherheit geflohen. Zu mir. Der Kameramann schüttelte den Kopf. »Das, was sie getan hat«, sagte er, »das hat sie umgebracht. Sie hat ihn verraten, aber fliehen konnte sie nicht. Das wäre Fahnenflucht unter Feuer gewesen.« Aber sie war doch gar kein Soldat! O Gott. Gott. Sie war Journalistin. Hat sie das nicht gewußt? Warum mußte sie diese gottverdammte Grenze überschreiten? Der Toningenieur legte Solanka den Arm um die Schultern. »Es gab noch etwas, das sie tun mußte«, erklärte er. »Wenn sie nicht zurückgeblieben wäre, hätte der Plan nicht funktioniert.« »Um Babur abzulenken«, sagte der Kameramann mit dumpfer Stimme, und da war es, das Allerschlimmste auf dieser Welt. Ihn abzulenken - wie? Was bedeutete das? Warum mußte sie es sein? »Sie wissen, wie«, sagte der Toningenieur. »Und Sie wissen, wozu. Und Sie wissen, warum sie es sein mußte.« Solanka schloß die Augen. »Sie schickt Ihnen das hier«, sagte der Kameramann. Kampfhubschrauber und schwere Mörser, befehligt von dem befreiten Präsidenten Golbasto Gue, schossen Löcher ins Lilliputanische Parlament. Ein Bomber warf seine Ladung ab. Das Gebäude explodierte, stürzte ein, brannte aus. Schwarzer Rauch und Gesteinsstaubwolken stiegen hoch in den Himmel. Dreitausend Reservisten und Fronttruppen griffen den Komplex an, machten keine Gefangenen. Morgen würde die Welt diese grausame Tat verurteilen, heute aber mußte sie verübt werden. Irgendwo in den Trümmern lag ein Mann, der Solankas Gesicht trug, und eine Frau, die ihr eigenes trug. Nicht einmal Neela Mahendras Schönheit konnte die Flugbahn der Mörsergranaten beeinflussen, die Bomben, die wie tödliche Fische durch die Luft nach unten schwammen. Komm zu mir, flüsterte sie Babur zu, ich bin deine Meuchelmörderin, die Mörderin meiner eigenen Hoffnungen. Komm her und laß mich Zusehen, wie du stirbst.

Malik Solanka öffnete die Augen und las den handgeschriebenen Zettel. »Professor Sahib, ich kenne die Antwort auf deine Frage.« Neelas letzte Worte. »Die Erde kreist. Die Erde kreist um die Sonne.«